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Dieses Video entstand im Juli 2021 in Serhiivka (Сергіївка / Zhytomyr) und der ehemaligen deutschen Kolonie Towine in der Westukraine: Ira Peter, Deutsche aus Kasachstan, besucht zum ersten Mal Towine, den Heimatort ihres Großvaters. Er und seine Familie sowie viele andere Bewohnerinnen und Bewohner Towines wurden 1936 nach Kasachstan (Ostrownoje / Zelinograd) deportiert. Die meisten von ihnen waren Deutsche, einige hatten auch ukrainische oder polnische Wurzeln.
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Mein Vater hat gesagt, es ist nichts mehr übrig von Towine. Ohne Erwartungen fahre ich an einen Ort im Westen der Ukraine, der nicht mehr existieren soll. Merkwürdig vertraut kommen mir die Häuser vor, je näher wir Towine kommen. Diese einstöckigen weißen Häuschen mit blauen oder grünen aus Holz geschnitzten Fensterrahmen. Die Veranden aus Holz, zur Hälfte verglast. So sahen die Häuser im Dorf meiner Großeltern in Kasachstan aus. 1936 wurden sie dorthin deportiert. Weil sie Deutsche waren und zu nah an der Westgrenze der Sowjetunion lebten, zu nah an Nazi-Deutschland, mit dem bald ein Krieg drohte.
Heute fahre ich an den Ort, an dem mein Großvater Reinhold Peter gelebt hatte - mit seiner ersten Ehefrau Olga, einer Ukrainerin, und vier Kindern, die in Kasachstan nie zu Erwachsenen wurden. Dazu fehlte es ihnen an Essen, Wärme, an Lebenskraft. Olgas Mädchenname: Bondartzyk. Mein Papa sagt, es könnten Verwandte von ihr im Nachbardorf von Towine leben. Ich frage nach. In dem ersten Haus, an dem wir halten, wohnt Galina. Galina Bondartzyk. Zufall? Sie ist die Schwiegertochter von Alexander Bondartzyk. Alexander war der Bruder von Olga, der Ehefrau meines Opas.
Ein Nachbar erzählt uns von Towine. Eine deutsche Kolonie sei das gewesen. Und dann überrascht er mich: Fünf Häuser stünden noch in Towine. Man schickt uns nun zu Vera am Ende des Dorfes. Sie ist die Tochter eines anderen Bruders von Olga Bondarzyk. Vera müsste meinen Großvater kennen. Er war Ende der Sechziger hier, um die Familie seiner Ehefrau zu besuchen. Olga war 1944 in Kasachstan an Typhus gestorben.
Vera ist zunächst zurückhaltend. Seit über 50 Jahren waren keine Peters mehr in ihr Dorf Serhiivka gekommen. Auch sie weiß, dass hier und in Towine einst viele Deutsche gelebt haben. An meinen Großvater erinnert sie sich auch und nimmt uns mit ins Haus. Dort zeigt sie mir Bilder, auf denen ich Verwandte von mir erkenne. Sie hatte bis vor einigen Jahrzehnten Briefkontakt nach Kasachstan. Vera spricht von den „Peterowy“, den Peters. Sie weiß auch noch, wo das Haus meines Großvaters in Towine gestanden hatte. Dort sei jedoch alles zugewachsen und nichts mehr zu sehen. Ich möchte trotzdem nach Towine. Nachbarin Swetlana führt uns durch die ehemals deutsche Kolonie direkt neben Serhiivka. Hier stand das Haus, in dem der Schwager meines Großvaters gelebt hatte, Wassilij Bondartzyk.
Gegenüber sehe ich ein verlassenes Haus der deutschen Kolonisten, die sich hier seit etwa 1860 angesiedelt hatten. Ich will es mir genauer ansehen, mir vorstellen, wie mein Großvater hier vielleicht jemanden besucht hatte. Wieder so ein Haus wie ich es aus Kasachstan kenne, wo die deportierten Wolhyniendeutschen in dem Stil ihre Häuser gebaut hatten, wie es hier in ihrer Heimat üblich war.
Das hast du gesehen, Opa, als Kind, als Erwachsener. Als du deine Frau Olga kennengelernt hast, als du Vater wurdest, als du dein Wolhynchen verlassen musstest. Hier kennt man noch deinen Namen, die Peterowy haben dort weiter hinten gelebt. Ich nehme Erde mit, Erde, in die du lieber begraben worden wärst als in die der Steppe Kasachstans. Ich würde gern etwas länger bleiben. Dieser Ort hat etwas Friedvolles, Vertrautes. Aber auch ich muss fort.
Mein Vater hat gesagt, es ist nichts mehr übrig von Towine. Dabei finde ich hier eine ganze Welt, das Wolhynchen, das für meine Großeltern für immer Heimat blieb. Sie hatten es mit nach Kasachstan genommen. In jedem ihrer Gedanken, jeder Geste, jedem Wort schwang ihre Heimat mit. Aus einem Ort, nach dem sie sich sehnten, wurde fast unmerklich ein ganzes Leben, das ein Strang aus Hoffnung und Sehnsucht zusammenhielt. Ihr Wolhynchen hatten sie dabei behutsam in ihr Herz gelegt und bis zum letzten Atemzug mit beiden Händen umklammert.
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Weitere Infos auf www.stadtschreiberin-odessa.de
Instagram @ira_peter
Dieses Video entstand im Rahmen eines Stipendiums des Deutschen Kulturforums östliches Europa: www.kulturforum.info/de/